«Wow! Vater, sind das die Alpen?»
«Ja, die Schweizer Alpen, um genau zu sein», antworte sein Vater. Dieser fing an, über die für ihn interessante Geografie der Schweiz zu reden. Kaito kannte diesen Vortrag nur allzu gut, weshalb er weiterhin aus dem Fenster schaute. Auf einmal sah er ein Mädchen mit langen, schwarzen Haaren und ganz bleicher Haut.
«Wer mag sie wohl sein?», murmelte er.
Drei Wochen später war er endlich da, der erste Tag in der neuen, internationalen Schule. Kaito stand viel zu früh auf, so sehr freute er sich. Gleichzeitig war er aber auch aufgeregt. Nach dem Frühstück stieg er zu seinem Vater ins Auto. Nach einer kurzen Fahrt hielten sie vor einem Gebäude mit der Inschrift «Non est vir fortis qui laborem fugit». Mit Hilfe seines Smartphones fand Kaito die deutsche Übersetzung heraus: «Das ist kein tapferer Mann, der die Anstrengung scheut». Das tönt nach einer strengen Schule, dachte er sich, packte seinen Rucksack und stieg aus. «Bis später!», rief er seinem Vater zu.
Kaito sah sich auf dem riesigen Pausenplatz um und wollte gerade jemanden um Hilfe bitten, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte. «Salut! Du musst der neue Schüler sein, Kaito, richtig?»
«Ja, genau. Freut mich, Sie kennen zu lernen. Darf ich wissen, wer Sie sind?». Der etwas ältere Mann stellte sich als Schulleiter vor und führte ihn durch die Schule. Das Gebäude war alt und hatte viele Räume. Alle Türen waren aus Holz und die Zimmer waren pastellgelb gestrichen.
«So, das wäre alles», sagte der Schulleiter: «Deinen Stundenplan findest du auf unserer Schul-App. Deine Klasse ist die 28b.»
«Vielen Dank für Ihre Hilfe und bis bald.»
Kaito zog sein Handy heraus und schaute nach, wo sich seine Klasse befand. Nach einer Weile stand er vor dem Zimmer, in dem seine Klasse bald Unterricht hatte.
«Hast du schon gehört? Der neue Schüler soll heute kommen.»
«Ja, er soll hübsch sein!»
«Ja, das habe ich auch gehört!»
Kaito hörte dem Geschwätz zu und schmunzelte.
Eine leise Stimme sagte: «So ein Drama. Könnt ihr nicht etwas ruhiger sein, meine Ohren tun weh und ich will schlafen». Die Stimme des Mädchens tönte kalt und müde.«Na, na, Mirai, es gibt keinen Grund, gleich genervt zu sein», sagte eine andere Stimme. Die drei Mädchen redeten weiter, während die anderen Schüler langsam verstummten.
«So! Ruhe bitte! Guten Morgen alle zusammen», sagte der Lehrer, als er mit Kaito ins Zimmer trat. «Wie ihr alle sicher wisst, kommt heute ein neuer Schüler zu uns. Darf ich vorstellen: Kaito.» Alle lächelten, die Mädchen wurden etwas rot im Gesicht und die Jungs versuchten, möglichst cool zu wirken. «Hallo zusammen», sagte Kaito und schaute in die Runde. Sein Blick blieb an einem Mädchen hängen, das weder lächelte noch rot geworden war und ihn auch nicht anstarrte. Es hatte lange, schwarze Haare und eine ganz bleiche Haut. Sie schien zu schlafen.
«Mirai, bitte wach auf», sagte der Lehrer. «Begrüsse auch du deinen neuen Klassenkameraden!» Aber Mirai rührte sich nicht und gab nur ein leises «Keine Lust, ihm zuzuhören» von sich. Sie konnte hören, wie der Lehrer sich bei Kaito für sie entschuldigte und auch, was die anderen sagten: «Schon wieder dieses Verhalten.»
«Sie ist so abstossend.»
«Man sagt, sie lebe allein.»
«Kein Wunder, ich würde meine Tochter auch allein lassen, wenn sie so eine Persönlichkeit hätte.»
Das leise Gelächter tat ihr in den Ohren weh, sodass sie sich zum Fenster drehte. Plötzlich hörte sie Schritte, die immer näherkamen. Als sie den Kopf umdrehte, lag neben ihr noch ein Kopf auf dem Pult. Es war ein Junge mit blonden Haaren und er lächelte. Mirai drehte sich wieder zum Fenster.
Als es klingelte, wartete Mirai darauf, dass alle das Zimmer verlassen. Doch ihr neuer Mitschüler rührte sich nicht. «Was willst du?», fragte sie ihn.
«Ich will dich lächeln sehen!», antwortete der Neue, dessen Namen sie schon vergessen hatte.
«Sie zum Lachen bringen? Das schaffe nicht mal ich», mischte sich Cherry, Mirais einzige Freundin, ein. «Versuch es gar nicht. Ich habe Mirai das letzte Mal vor 11 Jahren lächeln sehen», meinte Sinjin, den Kaito bereits ein bisschen kannte, da die beiden Nachbaren waren.
Mirai ignorierte die beiden: «Wie war dein Name?»
«Kaito, hast du ihn wirklich schon vergessen?»
«Ich habe ihn noch nie zuvor gehört.»
«Also, dann stelle ich mich wieder vor», begann Kaito, doch Mirai fiel ihm ins Wort:
«Nicht nötig, ich rede eh nie wieder mit dir.»
«Ach so, und wer sagt, dass du das entscheidest?»
Mirai wandte sich von ihm ab: «Also, Cherry, wollen wir gehen?»Doch weder Cherry noch Sinjin waren im Raum. Mirari wandte sich wieder Katio zu. «Ich entscheide, mit wem ich rede. Mit dir sicherlich nicht.»
«Ich entscheide auch, mit wem ich rede», konterte Kaito. So stritten sie noch ein wenig weiter, bis die Pause fast schon vorüber war.
«So kommen wir nicht weiter.»
«Da hast du recht, Mirai», erwiderte Kaito. Nach einer Weile Stille, versuchte Kaito erneut, das Eis zu brechen: «Wie wäre es damit? Wir machen eine Wette, ich habe noch heute und die nächsten zwei Tage Zeit, dich mindestens einmal zum Lachen bringen. Wenn ich es schaffe, sind wir Freunde, wenn nicht, reden wir nie wieder miteinander. Abgemacht?»
Mirai antwortete, ohne zu zögern: «Abgemacht. Du schaffst das eh nie.»
«Das werden wir ja sehen.»
Am nächsten Morgen ging Kaito bereits auf dem Pausenplatz auf Mirai zu. Seine Strategie war, sie mit Witzen zum Lachen zu bringen. Der erste verfehlte jedoch seine Wirkung. Aber Kaito gab nicht auf. Nach jeder Lektion erzählte er ihr einen neuen Witz: «Fritz geht um die Ecke. Was fehlt?» Mirai antwortete, ohne eine Miene zu verziehen: «Der Witz.» Kaito versuchte es nochmals: «Weisst du, was der Hammer ist?»
«Ein Werkzeug.»
«Wie nennt man ein Brot, das untergeht?»
«U-Brot.»
So vergingen die Stunden und der Tag ohne ein Lächeln Mirais.
Als Kaito am Abend ins Auto seines Vaters einstieg, war er verzweifelt. «Was ist los, Kaito?», sein Vater sah besorgt aus, also erzählte ihm Kaito alles. «Was für gute Flachwitze, und sie hat nicht einmal gelacht? Wie lustig!»
«Vater, ich weiss nicht, was ich machen soll. Hast du eine Idee?» Doch sein Vater zuckte nur mit der Schulter: «Ich kann dir da auch nicht weiterhelfen.» Da erinnerte sich Kaito daran, das Sinjin Mirai schon lange kannte und sie einmal lächeln sah. Er nahm sofort sein Handy und rief ihn an: «Hey, Sinjin! Kannst du mir vielleicht helfen?»
«Lass mich raten. Du willst wissen, warum Mirai damals gelacht hat, richtig?»
«Bin ich so durchschaubar?»
«Für mich schon. Weisst du, warum sie nicht mehr lacht?»
«Nein, keine Ahnung.»
«Ihr Bruder ist vor 11 Jahren neben ihr erschossen worden. Sie lachte oft wegen ihm und mir. Ich habe weiter versucht, sie zum Lachen bringen, aber sie weinte nur noch.»
Kaito wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Sie blieben eine Weile still, bis Kaito sagte: «Sinjin, ich weiss nicht, was ich sagen soll, aber jetzt bin ich nur noch motivierter Sag mir, was sie letztmals zum Lachen gebracht hatte.»
«Du bist so ein komischer Kauz, aber gut. Es war, als ihr Bruder und ich einmal «Tutus» anzogen und wie zwei Primaballerinen vor ihr rumhampelten.»
«Sinijn, du bist der Beste!»: Kaito bedankte sich und legte lächelnd auf.
Als der Lehrer am darauffolgenden Tag ins Klassenzimmer trat, sassen alle an ihrem Platz. Alle, bis auf Kaito. «Weiss jemand, wo Kaito ist?», fragte er. In diesem Moment ging die Türe auf, und Kaito tanzte, in das viel zu kleine «Tutu» seiner Schwester gequetscht, auf den Zehenspitzen in Richtung Mirai und sang aus voller Kehle. Nun gab es in der Klasse kein Halten mehr. Alle krümmten sich vor Lachen, nur Mirai kämpfte krampfhaft dagegen an. Als Kaito mit einem «Jeté» neben ihr aufs Pult sprang, brach sie in schallendes Gelächter aus. Die ganze Klasse verstummte und alle Augen richteten sich auf Mirai. Es war das erste Mal, dass sie sie Lachen hörten.
So elegant, wie er aufs Pult gesprungen war, sprang Kaito auch wieder herunter. «Und? Wer von uns hat nun die Wette gewonnen?», fragte er. Mirai antwortete nur mit einem Lächeln. Ein Lächeln, das Kaito noch oft zu Gesicht bekommen würde.